»Wo im Osten von Berlin
Uf der Spree die Zillen zieh’n,
Wo man jroße Weißen leert
Und den jrünen Aal verzehrt –
Da – da steht een Hinterhaus …«
(Hans Ostwald: Das Zillebuch, 1929)
Die Situation ist bekannt. In der Wohnung sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa und niemand will’s gewesen sein. Julia Drewitz verdächtigt natürlich ihre Kinder Albrecht und Luise. Doch die fühlen sich zu unrecht beschuldigt. Irgendjemand anderes schläft neuerdings tagsüber in ihren Betten und isst das Müsli auf. Und dann sind da ständig diese Zettel, deren Botschaft die beiden Kinder wegen der unleserlichen Schrift nicht gleich entziffern können. Das alles muss mit ihrem neuen Zuhause zu tun haben, einem heruntergekommen Hinterhaus in der Berliner Innenstadt. Erst Herr Schumpeter, der alte Nachbar, liefert den Schlüssel zu des Rätsels Lösung. Der führt sie geradewegs in das alte Berlin. Dazu der Autor des Kinderbuchs Die Schlafburschen, A. Wallis Lloyd, im Alexklusivinterview:
1. Wer oder was sind Schlafburschen?
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Schafburschen und Schlafmägde ein universelles Phänomen in deutschen Industriestädten. Das waren arme Leute vom Lande, die sich keine eigenen Wohnungen leisten konnten und deswegen dazu gezwungen waren, die Betten anderer, etwas besser gestellter Arbeiterinnen und Arbeiter zumeist tagsüber und stundenweise zu mieten, um darin zu schlafen – „im selben Schweiß und Mief“, wie es in meiner Geschichte heißt – während die Hauptmieter selber in der Fabrik arbeiteten. Als Ärmste der Armen hatten sie damals einen ziemlich schlechten Ruf. Obwohl das Schlafburschen- bzw. Schlafgängerwesen in anderen, weniger wohlhabenden Ländern weiter existiert, ist es hierzulande weitgehend verschwunden. Insofern bilden die Schlafburschen in meiner Geschichte eine Ausnahme: Sie sind immer noch da – wenn wir gerade nicht zu Hause sind!
2. Wie kamst du zu dieser Geschichte?
Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert, und alte Beschreibungen vom Leben in den Mietskasernen und vor allem vom Schicksal der Schlafburschen haben mich tief beeindruckt. Meine fränkischen und thüringischen Vorfahren haben damals auch nicht besser gelebt. Da alle meine Berliner Wohnungen in der Zeit vorm Ersten Weltkrieg gebaut wurden – mein jetziges Wohnhaus stammt aus dem Dreikaiserjahr 1888 – habe ich mich immer gefragt, wie meine Vorgänger gelebt haben: Was ist von ihnen in meinen Räumlichkeiten geblieben und was wird wohl später von mir übrigbleiben? Schließlich sind wir alle auf der Durchreise. Dazu kamen mein Interesse für historische Schriftarten sowie meine lebenslange Leidenschaft für spannende Geschichten. Diese drei Interessengebiete haben sich sozusagen in den Schlafburschen verdichtet.
3. Die beiden Protagonisten Albrecht und Luise erleben dieses Abenteuer nur, weil die Mutter aus finanziellen Gründen aus dem Haus am See in ein schäbiges Hinterhaus ziehen muss. Ist das ein Seitenhieb auf die Wirtschaftskrise der letzten Jahre?
Das könnte man durchaus so auffassen, auch wenn die Idee für die Geschichte ein paar Jahre zurückliegt. Eine Grundidee des Buches ist allerdings, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, und dass die Vergangenheit unerwartet und uneingeladen in die vermeintlich friedliche Gegenwart hineingreifen kann. Die angeblich so reiche und moderne EU macht diese Erfahrung gerade durch. Zwar wähnten sich auch Albrecht und Luise einst in Sicherheit und Wohlstand, aber sie müssen feststellen, dass sie den scheinbar so fremden Schlafburschen nicht unähnlich sind und noch einiges mit ihnen ausbaden bzw. wiedergutmachen müssen. Die paar Generationen, die die Kinder von der rauen Welt der Schlafburschen trennen, sind historisch gesehen ein Klacks, und die Gefahr, dass man dorthin zurückfällt, ist immer präsent – wie Millionen von jungen Menschen in Griechenland und Spanien jetzt erfahren.
4. In der Geschichte sind kleine Notizen in Sütterlin-Schrift versteckt. Was hat es mit dieser Schrift auf sich?
Die Sütterlin-Schrift hat mich schon immer fasziniert, vor allem deshalb, weil ich sie nach wie vor kaum entziffern kann! Sie wurde 1911 vom schwäbischen Graphiker Ludwig Sütterlin entwickelt und geht auf ältere deutsche Kanzleischriften zurück. Ab 1915 wurde sie in den preußischen Schulen unterrichtet, bis die Weimarer Republik sie für ganz Deutschland vorschrieb. Obwohl Sütterlin, genau wie die gute alte Frakturschrift, heute als „urdeutsch“ gilt, waren es ausgerechnet die Nationalsozialisten, die beide Schriftarten 1941 als „undeutsch“ und sogar „jüdisch“ verboten. Nach dem Krieg wurde sie aber eine Zeitlang weiter unterrichtet, länger im Osten als im Westen, bis sie endlich in den 1970er Jahren ganz aus dem Verkehr gezogen wurde. Da nur noch wenige – ältere – Menschen diese Schrift noch lesen können, dachte ich, dass sie ein faszinierendes Bindeglied zwischen verschiedenen Generationen und Epochen darstellen könnte. Deswegen kommunizieren Albrecht und Luise mit den Schlafburschen zunächst mit Notizen in Sütterlin – da man sich ja gegenseitig nie zu Gesicht bekommt, denn wer mit Menschen aus früheren Jahrhunderten kommunizieren will, muss sich mit Zeichen und anderen Überbleibseln einer fremden Kultur befassen. Ein persönliches Gespräch wird ja selten möglich sein.
5. Du bist Amerikaner, seit wann lebst du in Berlin und kann man die Stadt mit amerikanischen Städten vergleichen?
Ich bin 1991 permanent nach Berlin gezogen, aber ich kenne die Stadt von früher und habe sogar 1988 ein halbes Jahr im alten, vorgentrifizerten Prenzlauer Berg gewohnt. Was ich hier vor allem schätze, sind die intakten urbanen Strukturen: dichte Bebauung, viele lokale Läden, einen gewissen „sozialen Mix“ von Klassen und Ethnien statt der amerikatypischen Ghettobildung, Großstadtatmosphäre, ein „historisches“ Gefühl in den Straßen und vor allem den exzellenten öffentlichen Nahverkehr. So gern wie ich früher Autos besessen habe, will ich nicht dazu gezwungen werden, ein teures Auto zu unterhalten, nur um einkaufen zu können oder zur Arbeit zu fahren. Das ist wohl der größte Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Städten, und ich möchte ihn nicht missen.
6. Kann man Zilles Berlin heute noch irgendwo entdecken?
Zilles Berlin lebt trotz der Kriegszerstörungen und vielen anderen Eingriffen in die Bausubstanz an vielen Ecken weiter, vor allem in meinem alten Kiez in der Nähe vom Rosenthaler Platz. Ein Haus in meiner Straße diente sogar als Vorlage für eins von Zilles besten Bildern. Die alte Hinterhofwelt lebt hier und da weiter – ich habe neulich im Rahmen meines Jobs ein Haus besucht, das tatsächlich noch vier Höfe hatte, wie zu Zilles Zeiten – und eine Freundin von mir bewohnt eine Bude in Kreuzberg, die ganz und gar den Seiten meines Buches entsprungen zu sein scheint. Aber schließlich kenne ich das alles selber aus eigenem Erleben…
7. Wer ist die Illustratorin Point?
PoinT ist ein aufsteigender Stern in der Berliner Kunst- und Comicszene. Sie hat dieses kleine Buch reich bebildert und wir werden auch einige weitere gemeinsame Projekte herausbringen. Ich habe sie als Karikaturistin und Comiczeichnerin kennengelernt – ich kann ihre Blaumänner-Serie und vor allem ihre neue Graphic-Novel Das letzte Geheimnis sehr empfehlen – und kann mir Die Schlafburschen ohne ihre wunderschönen Illustrationen nicht mehr vorstellen.
8. Wo kann man das Buch beziehen?
Man kann Die Schlafburschen in jeder Buchhandlung kaufen bzw. bestellen. Am schnellsten und bequemsten geht es vermutlich über Amazon oder – falls man Ressentiments hegt – alle anderen Online-Buchhandlungen.
9. Was kommt als nächstes?
Noch in diesem Monat erscheint Das Monster-Musical, ein Kinderbuch mit wunderschönen Farbillustrationen von PoinT. Ich bin sehr gespannt darauf. Es folgen dann die englische Ausgabe der Schlafburschen – The Bed Lodgers: A Berlin Tale – sowie eine reichlich illustrierte Neuerzählung der alten englischen Legende Dick Whittingtons Katze, und ich spreche nur von diesem Sommer! Wie du siehst – es rattert in der Kiste.
~
A. Wallis Lloyd (www.awallislloyd.de)
Die Schlafburschen (www.schlafburschen.de)
Illustrationen von PoinT (www.parallelallee.de)
Edition Graugans (www.edition-graugans.de)
Lesealter ab 8
1. Auflage, Mai 2013
Taschenbuchausgabe
200 Seiten
ISBN: 978-3-944704-00-5
14,90 €
Gebundene Geschenkausgabe
200 Seiten
ISBN: 978-3-7322-4261-0
29,90 €
Auch im Kindle-Shop erhältlich.
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