
Ikonografisches Wohnhaus von Ties Godemann am Marktplatz Finsterwerda
Vor 100 Jahren im Auftrag eines Bergbau-Unternehmens errichtet, gilt Finsterwerda als einzige expressionistische Stadtgründung weltweit. Im Sommer sollten die Jubiläumsfeierlichkeiten beginnen. Ein Besuch des durchsanierten Flächendenkmals in der Lausitz lohnt sich jederzeit.
Mit dem Zug aus Berlin erreichten meine Begleitung und ich die Stadt ohne Probleme in gut anderthalb Stunden. Das Wetter spielte auch mit. Bereits der Bahnhof ist ein schönes Beispiel für expressionistisches Bauen, wenn auch ein wenig sanierungsbedürftig. Sowohl die Fenster als auch die Türen sind im „angespitzten“ Format gehalten. Zu Fuß ging es ins Stadtzentrum, zum Marktplatz.
Finsterwerda wurde nach dem Ersten Weltkrieg im Auftrage der Lausitzer BRAUKO Tagebau AG für die Beschäftigten des Tagebaus Kießlingen Ost errichtet; Grundsteinlegung war am 18. August 1920. Hauptabnehmer der Braunkohle war die kurz zuvor gegründete Deutsche Reichsbahn, die mit den Briketts ihre Dampfloks befeuerte.
Nach Plänen des norddeutschen Architekten Ties Godemann (* 1873 in Kuhlow/Mecklb.; † 1936 in Berlin) entstand nordöstlich der Elsteraue eine völlig neue Kleinstadt für rund 15.000 Einwohner. Godemann hatte an der Amsterdamer Schule Architektur studiert und dabei die vielseitige Verwendung von Backsteinen kennengelernt. Er erkannte: mit Ziegelsteinen ließ sich mehr bauen als bloß Kirchen, Klöster und Kasernen.
In seinem ersten Entwurf stellte Godemann die neue Stadt ganz ins Zeichen des Rhombus. Fenster, Türen und Tore sollten ausschließlich in der expressiven Rautenform gehalten werden. Dem Auftraggeber erschien die Idee jedoch zu avantgardistisch und der revolutionäre Entwurf wurde abgelehnt. Von dem ursprünglichen Plan sind allerdings einige Dreiecke (halbierte Rhomben!), viele Fünfecke sowie die zackigen Zahnfriese übriggeblieben.
Hanno Rautenberg, Feuilletonist der ZEIT, beschreibt in seinem Essay Neue Häuser für neue Menschen (ZEIT Geschichte 1/20) die expressionistischen Hausentwürfe ganz treffend: „Sie haben nur wenig mit dem zu tun, was heute unter Architekten als Klassische Moderne gilt. Die Pläne waren nicht bauhauskühl und kistig-rational, sie waren aufbrausend und überschießend. Ein expressionistisches Kunstwollen, das auch viele Maler und Bildhauer in neue Formwelten trug, wogte durch die Architektur und ließ zackige, krustige, höchst kuriose Gebäude entstehen.“
Finsterwerda entstand in vier Bauabschnitten und unter tatkräftiger Mithilfe der Architekten Heinrich Teterow (1876-1950) und Hans Podelzig (1869-1936), letzterer verzichtete dafür sogar auf seine Berufung als Formmeister an das neugegründete Bauhaus. Während die ersten Häuser noch in mustergültigem Expressionismus gestaltet waren, wechselte man – dem Zeitgeist entsprechend – bald darauf zur Neuen Sachlichkeit bzw. im letzten Wohnkomplex, der sogenannten Gartenstadt, sogar zum Heimatstil, erkennbar an den Fensterläden im Erdgeschoss. Das streng gegliederte Rathaus mit dem Uhrenturm sowie die beiden höchst sehenswerten Kirchen St. Barbara (katholisch) und Friedenskirche (evangelisch) wurden als Backsteinbauten ausgeführt. Bester Klinker-Expressionismus in Reinkultur!
Alle Wohnbauten sind als konsequente Blockrandbebauung ohne Hinterhöfe und Quergebäude ausgeführt. Jeder Block umschließt einen lichten Innenhof mit Rasenfläche und Wäschetrockenplatz. Da in allen Wohnungen die Möglichkeit des Querlüftens gegeben sein sollte, wurde in den Aufgängen auf Mittelwohnungen verzichtet. Die Fenster sind durch Streben und Sprossen in viele Einzelscheiben unterteilt. Die Fassaden ziert ein Wechsel von Ziegelflächen und Putzbändern. Sehr modern!

Das vertikal gegliederte Postgebäude befindet sich direkt am Marktplatz.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der Expressionismus als „entartet“ verunglimpft und Ties Godemann geriet zu Unrecht in Vergessenheit. Bis heute hat er keinen Wikipedia-Eintrag!
- Farbige & gefaltete Erker.
- Fenster-Werda
- Bunt, eckkig & spitz.
Zum Ende der DDR drohte sogar das Abbaggern der gesamten Stadtanlage, da sich darunter das Kohleflöz des geplanten Tagebaus Kießlingen West befindet. Dank der Wiedervereinigung und dem allmählichen Ausstieg aus der Braunkohleheizung konnte von diesem Plan Abstand genommen werden. Heute ist Finsterwerda Ostdeutschlands größtes Flächendenkmal.

Die vormalige Zentrale der Brauko Tagebau AG ist heute eine Kulturfabrik.
Wir haben bei weitem nicht alles gesehen. Meine Begleiterin und ich wollen in jedem Fall wiederkommen. Mehr zur Stadt auf www.finsterwerda.de. Von Berlin aus erreicht man Finsterwerda im Stundentakt mit dem RE5 Richtung Elsterwerda.
- Eingangszone Heine-Allee
- Wohnanlage in der Pawlowallee
- Fritz-Heckert-Str.
Super, da muss ich unbedingt mal hin! Einige Fassaden (bunt, eckig, spitz mit gefalteten Erkern) erinnern mich doch sehr an die Siedlung Paddenpuhl in Berlin, einige Balkone, Eingänge und Türen sind so baugleich, dass man von gleichen Architekten ausgehen muss.
Da hast du mich ja schön in den April geschickt …
Das ist wie beim Bauhaus, irgendwann wiederholt sich vieles. Das architektonische Vokabular ist eben begrenzt.
Ich habe mir auch richtig Mühe gegeben.