Alexander Roda Roda: Die geistliche Macht

Zum Wunderrabbi von Borjan kam Simon Trümpetenschleim, Gutspächter weit drüben aus Kadobeschtje, brachte reiche Geschenke mit und bat flehentlich um Regen.

„Sei ohne Sorge“, sagte der Rabbi, „und spann den Schirm auf. Eh du heimkimmst von dein Pilgerreise, frommer Sohn, werd es schon haben angefangen zu tröppeln.“

Simon Trümpetenschleim in gläubigem Hoffen spannte den Schirm auf und fuhr heim. Zuerst tröpfelte es, dann knisterte der Regen.

Der Regen fiel, die Woche begann. Die Woche verging, der Regen prasselte. Am dritten Schabbes kam ein Telegramm vom Rabbi aus Borjan:

„trümpetenschleim was is? drahtet, ob es weiterregnen soll.“

Alexander Roda Roda: Jagd im Ried (1932)

Nevéry, den sein Rabenvater vor dreiundzwanzig Jahren hatte auf ‚Moriz‘ taufen lassen – Nevéry riss die Tür auf und schrie: „Hast du eine Flinte? Guten Tag!“

Ich zerrte Nevéry vollends ins geheizte Zimmer, schloss die Tür hinter ihm und sagte in mildem Erzieherernst: „Moriz! Man macht das nicht wie du. Man klopft an und wartet. Man tritt ein und schließt. Dann sagt man: Guten Tag! Hast du eine Flinte?“

Moriz aber hörte nicht auf mich, beutelte sich den Schnee vom Mantel und verlangte einen Kognak.

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Alexander Roda Roda: Melodie (1932)

In acht Tönen – wie sie auch heißen mögen, immer nur acht – ist die Musik eingefangen, aller Klang enthalten, der das Herz rühren kann, befeuern und entmutigen.

Durch Kombination dieser Töne, nur dieser – indem man sie gelegentlich dehnt oder verkürzt, entstehen:
das Gralsmotiv,
Ich küsse Ihre Hand, Madame,
Giovinezza,
die Internationale,
Deutschland, Deutschland über alles –
Hymnen und Gassenhauer, Attackesignale und Liebesseufzer, Walzer und Gebete.

Man kann die Töne zu Akkorden binden, durch Pausen trennen.

Immerhin sind es nur acht – aus acht Steinchen baut sich das ungeheure Gebäude auf einer Kunst – einer blühenden Industrie, die Millionen Hände beschäftigt und ernährt.

Acht Töne – die Zahl der Kombinationen daraus muß beschränkt sein.

Die niedere Mathematik nennt die Zahl: acht zur achten Potenz, das sind nicht einmal 17 Millionen Möglichkeiten.

Überdies kommen viele der 16 oder 17 Millionen mathematisch konstruierbaren Varianten für die Praxis gar nicht in Betracht: weil sie ohrenzerreißend mißtönig oder albern klingen, banal und derb.

Ich glaube also, daß die Reihe der angenehmen oder auch nur erträglichen Kombinationen bald erschöpft sein wird. 17 Millionen, so viel Operetten, Verlage, Volkslieder und Tänze gibt es längst.

Ja, ich fühle das Ende der Musik schon nahen. Wir alle werden es noch miterleben. Ich gebe dem ganzen Betrieb nur noch zwei, drei Jahre Zeit.

Man suche mich nicht durch das Beispiel der Literatur zu widerlegen; die Literatur verfügt immerhin über 25 Elemente, die Buchstaben A bis Z, und das in zahllosen Sprachen: 25 zur 25sten Potenz gibt einen astronomischen Wert.

Der Untergang der Musik läßt sich beschleunigen. Ich erbiete mich, eine Maschine zu entwerfen – und jeder mittelmäßig begabte Ingenieur wird sie nach meinen Angaben verwirklichen können: eine Maschine, die leicht und rasch sämtliche aus acht Tönen überhaupt noch ausstehenden Motive komponiert und auf Pappestreifen stanzt; das gewöhnliche elektrische Klavier kann die Motive abspielen.

Hierauf wird das Musizieren als erfüllt aufzugeben sein.

Alexander Roda Roda: Die Anstalt (1932)

Man hatte mich eingeladen, die Irrenanstalt in Troppau zu besichtigen. Es ist das eine der größten in der Tschechischen Republik.

Nun, meiner Treu, ich bin nicht hochmütig und am allerwenigsten klebe ich am Zeremoniell – wenn aber der Direktor einer staatlichen Irrenanstalt mich eigens zu sich lädt, feierlich sozusagen: dann, meine ich, sollt er mich nicht in einem dreckigen Hospitalkittel am Tor empfangen. Das ist ein Etikettefehler, der den Blick des Gastes irgendwie trübt – man schließt auf Misswirtschaft, Unsauberkeit des Ganzen.

Er geleitete mich durch alle Abteilungen, erklärte mir seine Methoden, machte mich aufmerksam auf Neuerungen – und ich muss gestehen: ich fand, die Anstalt kann sich sehen lassen.

Im dritten Pavillon näherte sich uns ein älterer, gut angezogener Herr und sah uns ziemlich erstaunt entgegen. Mein Begleiter wisperte mir zu:

„Beachten Sie ihn nicht! Ein Größenwahnsinniger; bildet sich ein, er ist der Direktor. Und nur, um den armen Narren nicht aufzuregen, lasse ich mich von den Ärzten hier seit Jahren als heilbedürftigen Insassen behandeln.“